Vier Persönlichkeiten hat die Deutsch-Baltische Gesellschaft bei einem Festakt in Darmstadt für ihre Verdienste um die deutsch-baltische Gemeinschaft geehrt. Der Kulturpreis 2023 wurde an die Forschungsgruppe „Die deutsche Sprache im Baltikum“ verliehen, stellvertretend waren die Professorinnen Dr. Reet Bender von der Universität Tartu/Dorpat und Dr. Ineta Balode von der Universität Riga gekommen. Mit der Ehrenurkunde 2023 wurde die frühere Bundesvorsitzende Waltraut Freifrau von Tiesenhausen ausgezeichnet; Ulrich Mädge, Oberbürgermeister a. D. von Lüneburg, erhielt die Ehrenurkunde 2022.
Kulturpreis
Das Deutschbaltisch-Deutsch-Estnisch-Lettische Wörterbuch ist das Verdienst von vier Wissenschaftlerinnen: Anne Arold, Ineta Balode, Reet Bender und Dzintra Lele-Rozentāle. Mit einem Aufruf in der Rigaschen Rundschau hatte 1921 eine Sammlung des deutschbaltischen Sprachschatzes begonnen. Bei der Umsiedlung 1939 zog ein fast druckreifes Wörterbuch von rund 100.000 Einträgen mit nach Posen. Sein Bearbeiter Oskar Masing konnte aber sein Werk auch nach erfolgreicher Flucht in den Westen nicht vollenden. Ein weiterer Anlauf in den 50er Jahren scheiterte. Der langjährige Hüter, Alfred Schönfeldt, übergab den Schatz 2005 dem Herder-Institut in Marburg.
Nur vier Jahre später griff die estnische Germanistin Reet Bender – die in ihrer Doktorarbeit Oskar Masings Wörterbuchprojekt erforscht hatte – den Staffelstab auf. Gemeinsam mit ihrer lettischen Kollegin Ineta Balode und weiteren Kolleginnen und Studentinnen entstand so ein Deutschbaltisch-Deutsch-Estnisch-Lettisches Wörterbuch, das im Internet frei verfügbar ist und weiter wächst. Das Projekt wurde zunächst von der Universität Dorpat/Tartu, später auch vom Estnischen Bildungsministerium unterstützt.
Das deutsche Element im Baltikum war für sie schon seit der Kindheit selbstverständlich, erzählte Ineta Balode. In dem kleinen Dorf, in dem sie aufwuchs, habe eine Glashütte der Familie von Grotthuss gestanden, später habe sie ein Internat besucht, das in einem Schloss derer von Osten-Sacken eingerichtet worden war. Vergeblich habe sie dort nach einer Ahnentafel der früheren Besitzer gesucht. Estland und Lettland sind die Träger der deutschbaltischen kulturellen Tradition, hob Reet Bender hervor.
Leninglocken helfen Armen
Von 1989 bis 1997 war Waltraut Freifrau von Tiesenhausen Vorsitzende der Deutsch-Baltischen Gesellschaft. Sie initiierte die Wanderausstellung über die Deutschbalten, trug wesentlich zur Partnerschaft Darmstadt – Libau/Liepaja bei und organisierte nach der Wende viele Hilfstransporte ins Baltikum. Während eines Aufenthalts in Libau wurde dort das Lenindenkmal vom Sockel gestürzt. Ein Jahr darauf hatte von Tiesenhausen die Idee, den 6,5-Tonnen-Lenin mit nach Deutschland zu nehmen, ihn dort in 500 Glocken umzugießen und den Erlös des Verkaufs den Armen von Liepaja zu Gute kommen zu lassen. So kamen rund 30.000 Mark zusammen. Davon wurden große Teile des undichten Dachs im Waisenheim der Behinderten repariert, eine neue Duschanlage in der Sonderschule saniert und eine neue Duschanlage mit anschließendem Massageraum im Altersheim eingerichtet. Die Aufbruchstimmung nach der Wende Anfang der 90er Jahre habe vieles möglich gemacht, meinte Waltraut von Tiesenhausen. Endlich habe die Gesellschaft nach vorne geblickt. Die Menschen im Baltikum seien aber angesichts der vielen Probleme nicht euphorisch gewesen. Für den ersten Hilfskonvoi habe sie 14 40-Tonner organisieren können.
OB steuert 40-Tonner
Mehrmals im Baltikum war auch Ulrich Mädge. Der frühere Lüneburger OB saß dabei am Steuer eines Lastwagens der Hilfstransporte. Seine Verdienste für die Deutsch-Balten: Er initiierte einen runden Tisch für das Projekt Carl- Schirren-Archiv, er unterstützte entscheidend die Einrichtung einer Deutsch-Baltischen Abteilung im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg.
Der Bundesvorsitzende der Deutsch-Baltischen Gesellschaft, Andreas Hansen, würdigte die Arbeit aller Geehrten und hob die aktive Beteiligung von Waltraut von Tiesenhausen und Ulrich Mädge an den Hilfstransporten ins Baltikum hervor: „Dadurch bekommt man einen ganz anderen Blick auf die Länder“. Mädge ergänzte ironisch-mahnend: „Die Menschen sollten reisen, nicht nur die Politiker“.
Letten erhalten deutsches Erbe
Auf die herausragende Bedeutung der Brückenarbeit zwischen dem Baltikum und Deutschland wies Alda Vanaga, Botschafterin Lettlands, in ihrer Ansprache hin. 33 Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit könnten sich die baltischen Staaten durch den Beitritt zu NATO und EU sicher fühlen. Der „Informationskrieg“ Russlands gegen die freie Welt seit dem Angriff auf die Ukraine erfordere ein stärkeres Zusammenhalten der Länder Europas und mehr Kooperation auf allen Ebenen. Sie betonte die Bemühungen ihres Landes um den Erhalt des deutschbaltischen kulturellen Erbes in Lettland. Schon die ersten gesamtlettischen Sängerfeste vor 150 Jahren seien von deutschbaltischen Literaten unterstützt worden. Heute würden ehemalige Herrenhäuser und Kirchen wieder zum Leben erweckt und dienten dem Kulturaustausch. Die Völker des Baltikums freuten sich auf weitere enge Zusammenarbeit in der Zukunft.
Auch Roomet Sõrmus, Wirtschaftsattaché an der Botschaft der Republik Estland, hob in seinem Grußwort die Verdienste der Deutschbalten um die Sammlung estnischer Sagas und Volkslieder hervor. Sein früherer Präsident Lennart Meri habe stets darauf hingewiesen, dass auch dank der Deutschbalten Estland stets im mitteleuropäischen Kulturraum verblieben sei.
„Bei den Balten klappt alles“
Großes Lob erhielt die Deutsch-Baltische Gesellschaft von Margarete Ziegler-Raschdorf, der Hessischen Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler. Gerne habe sie diese „besondere Organisation“ bei der Arbeit unterstützt, sei es die Archivarbeit, die Kulturarbeit im Baltenhaus oder die Internationalen Kulturtage Mare Balticum gewesen. „Bei den Deutschbalten klappt halt alles“, stellte Ziegler-Raschdorf fest. Auch für die Zukunft sei es wichtig, Erlebnisse und Erfahrungen von Umsiedlern und Flüchtlingen zu erhalten. Deshalb habe die Universität Gießen erstmals in Deutschland einen Forschungsbereich Flucht und Vertreibung eingeführt.
Michael Anger (MBL 3+4/2023)
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