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Genealogentag 2020 befasste sich mit deutschbaltischen Firmen und Familien

Es war die letzte deutsch-baltische Veranstaltung vor Corona: Der Genealogentag 2020 im Haus der Deutsch-Balten in Darmstadt befasste sich mit dem Schicksal von deutschbaltischen Familien und Firmen im Laufe der Jahrhunderte. Nahe Verwandte waren in ganz unterschiedlichen Bereichen, meist erfolgreich tätig und hinterließen Spuren im Baltikum, auch solche, die noch zu sehen sind. Eine längere Fassung dieses Berichts erscheint in den „Mitteilungen aus baltischem Leben“.


Die Dellingshausen in Estland

Noch heute besteht das ehemalige Stadthaus der Familie Dellingshausen in Reval. Es beherbergt die Botschaft der Russischen Föderation. 1921 hatte die RSFSR das Gebäude gekauft, 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt von dort aus den Umsturz geplant, schilderte Thomas Freiherr von Dellingshausen (Bad Honnef) die Historie.


500 Jahre zuvor hatte Hinrick Dellinckhusen, der von Einbeck nach Reval ausgewandert war, eine steile Karriere hingelegt. Er wird 1479 in Reval als Schwarzhäupterbruder erwähnt, heiratet eine Ratsherrntochter, wird Ältermann der Großen Gilde.

Während des Nordischen Krieges zieht ein Nachkomme nach Arensburg auf der Insel Ösel. Sein Sohn erwirbt mehrere Rittergüter, 1785 stellt Kaiser Joseph II. Thomas Dellingshausen ein Diplom für den Reichsfreiherrnstand aus. In den nächsten Jahrzehnten erwirbt die Familie 20 Güter.

1918 legt Eduard von Dellingshausen das Amt des Ritterschaftshauptmanns nieder und emigriert mit seiner Familie nach Deutschland. Er stirbt 1939 in Potsdam und wird in Haljall auf dem Friedhof im Erbbegräbnis beigesetzt.

Keselinch – Keyserling – Keyserlingk

Immerhin ein bekanntes Gemälde von Lovis Corinth in der Neuen Pinakothek sowie eine Gedenktafel am Haus Ainmillerstraße 19 in München erinnert an den Schriftsteller Eduard Graf von Keyserling. Der 1855 in Kurland Geborene wurde aus ungeklärten Gründen aus einer Studentenverbindung ausgeschlossen und gesellschaftlich geächtet. Nach dem Tod der Mutter übersiedelte er mit seinen Schwestern nach München, wo er 1918 verstarb. Keyserling, in dessen im Jahre 1300 erstmals als Keselinch in Bielefeld erwähntem Geschlecht es heute noch unterschiedliche Schreibweisen gibt, schrieb vor allem Romane, Novellen und Dramen und wird auch als baltischer Fontane bezeichnet, wie Diplom-Ingenieur Roland Wegner (Leverkusen) ausführte.


Der Kurländer Archibald Graf von Keyserling (1882-1951) wird Kadett der Marine des Zaren, gerät im russisch-japanischen Krieg in Gefangenschaft, wird 1917 Kommandeur einer Zerstörer-Flottille, nach dem Untergang des Zarenreiches einer Kavallerieeinheit der Baltischen Landeswehr. Zwei Jahre später erfolgt die Ernennung zum Admiral der neu gegründeten lettischen Marine. 1931 muss er seinen Abschied nehmen.

Sein Onkel Walter Freiherr von Keyserlingk (1869 – 1946) wird Offizier der deutschen Kaiserlichen Marine und ist 1916 Teilnehmer der Skagerrak-Schlacht. Als Bevollmächtigter der Obersten Heeresleitung und der Seekriegsleitung ist er bei den Waffenstillstandsverhandlungen mit Russland in Brest-Litowsk im Februar 1918 dabei. 1919 wird er als Vizeadmiral verabschiedet.

Rosen unterm Strich

„Unterm Strich“, quasi als Anmerkung, wurden im weltweit bekannten Gotha, dem Genealogischen Handbuch des Adels, Abkömmlinge der Blaublütigen erwähnt, derer man sich nicht so gern entsann: illegitime Nachkommen, Adoptivkinder, nicht standesgemäße Ehen.

Prof. Dr. Claus Freiherr von Rosen (Hamburg) stellte anhand von mehr als einem Dutzend Beispiel aus seiner Familie den offiziellen Umgang mit solchen Menschen beziehungsweise mit der Dokumentation ihrer Existenz dar. So wird 1671 im Kirchenbuch von Issenheim im Elsaß eingetragen, dass ein Sohn des „Herrn Johann David v.R. und der Frau Margarethe ingleichen Hochedele von Rosen“ getauft wird. Drei Monate später tauft der Pfarrer einen „ausser der Ehe“ gezeugten Sohn des „Herrn Capitän Johann David von Rosen“. Der Familienforscher von 1877 hatte dies verschwiegen, seine Tochter machte die Sache wieder publik.


Seit 2006 gilt bei den Rosens, dass alle Namensträger/Innen zur Familie gehören und daher Mitglied im Verband werden können, soweit sie sich auf den Urvater Woldemar dictus de Rosen von 1286 zurückführen lassen. Und entsprechend werden nun auch alle NamensträgerInnen in der Neufassung der Familiengeschichte 2020 aufgenommen – nicht unterm Strich, sondern völlig gleichberechtigt.


Hörspiele um das Abgründige im Menschen

Geblieben von Fred von Hoerschelmann (1901 – 1976) sind viele Kilometer Tonbänder und vor allem eine Werkausgabe. Dr. Hagen Schäfer (Radebeul) hat sie herausgegeben. Er schilderte den Deutschbalten als Vorreiter des Hörspiels der Weimarer Republik, der die Blütezeit dieser Kunstform in den 1950er und 1960er Jahren maßgeblich geprägt hat.

Hoerschelmann beschäftigte sich frühzeitig mit Literatur. Nachdem er 1924 das erste deutsche Hörspiel gehört hat, baut er sich in seinem Geburtsort Hapsal ein Radio. Sein erstes Hörspiel Die Flucht vor der Freiheit wird von Königsberg aus urgesendet und hat deutschlandweit Erfolg.

Nach Umsiedlung, Fronteinsatz und Kriegsgefangenschaft zieht Hoerschelmann nach Tübingen. Die Erfahrungen dieser Jahre spiegeln sich im Hörspiel Die verschlossene Tür (1952) wider. Erzählt wird die Geschichte des baltischen Barons Kedell, der nach der Umsiedlung ein enteignetes Gut erhält, in dem sich dessen Besitzer, der Bankier Levi, ein Jude, versteckt hält. Kedell gibt Levi als seinen Bruder aus und bewahrt ihn so vor dem sicheren Tod.


Von der Gipsfabrik zum Wohnviertel Nur ein Gebäude und der Schornstein steht noch von der Gips- und Kachelofenfabrik Zelm und Böhm im Rigaer Stadtteil Kurtenhof. Aber dank einer lettischen Architektin ist auch sozusagen der Geist der Firma zu sehen. Über einer Tiefgarage wurde wieder der alte Blaubasalt gepflastert, die Kipploren dienen als Blumenkübel, die ehemalige Anlegestelle lädt als Sonnenterrasse eines Restaurants zum Verweilen ein, berichtete Gertrud Zelm (Hannover).

Der Gründer des Unternehmens, Johann Christoph Zelm, pachtete 1858 einen Gipsbruch und ein Gelände im Westen Rigas direkt an der Düna. Das Rohmaterial wurde unter anderem zu Mauer-, Stuck und Düngegips verarbeitet. Dank des enormen Wachstums von Riga wuchs auch die Firma.


1873 wurde ein neuer Gipsbruch in Kurtenhof (Salaspils) gepachtet, südöstlich von Riga. Als Produkte kamen Ofenkacheln hinzu. Die Öfen waren gerade in der Jugendstilzeit heißbegehrt, international verkauft und auf Messen mit höchsten Auszeichnungen bedacht. 1939 musste die Besitzerfamilie umsiedeln, das Firmengelände wurde 1945 größtenteils eingeebnet.

Geschichte aus dem Koffer

Vielleicht wüsste niemand mehr etwas über das Handelshaus Jakob Jacke & Co. zu erzählen, hätte Frank Karnowsky nicht einen Koffer aus dem Nachlass seines Onkels vor dem Müllcontainer gerettet. Darin fand er Unterlagen seines Großvaters Heinrich Rombach, des letzten Chefs dieses Handelshauses in Pernau. Sie belegen die Probleme der Deutschbalten mit dem Lastenausgleich.


Nach der Umsiedlung 1939 sollte Heinrich Rambach von der Treuhandstelle des Reichs (DUT) einen Vermögensausgleich bekommen. 1927 war der Wert des Unternehmens auf 50.000 Goldkronen beziehungsweise 5.000.000 Eestmark beziffert worden. Die DUT schreibt in einem Bescheid 1941 von 1,7 Millionen Estenkronen als Rambachs 65 %-Anteil. Kriegsbedingt wird der Vermögensausgleich nicht mehr geregelt.


Die Bundesrepublik gewährt Rombach ab 1952 eine Kriegsschadenrente gewährt. In Sachen Vermögensschäden, wird festgelegt, dass Heinrich Rambach 1937 rund 10.000 Eestikronen Einkünfte hatte. Im Formular heißt es weiter lakonisch „Beweismittel: Keine“. Die erste Erfüllung des Anspruchs erfolgt 1960. 1964 stirbt Heinrich Rambach.


Der Wanderweg von Archivalien Jede Menge alter Schriften und eine dicke Staubschicht fand Jan Tobreluts vor, als er als neuer Archivar des Konsistoriums der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche vor 15 Jahren den Dachboden der Domkirche in Reval betrat. Seit 1939 lagerte dort ein großer Teil der Archive der deutschen Kirchengemeinden und seitdem war kaum Geld da, um für ihren Erhalt zu sorgen.

Ausführlich legte Tobreluts dar, welche Bücher im Besitz des Konsistoriums sind und welche Vorschriften es in alle den Jahrhunderten bezüglich Führung und Aufbewahrung gegeben hatte. Spätestens seit 1686 verpflichteten die damals in Estland herrschenden Schweden die Pastoren, Kirchenbücher mit Personalangaben zu führen. Seit 1832 erhielt das Konsistorium Abschriften. Nach der sowjetischen Okkupation 1941 kamen alle Archivmaterialien ans staatliche Zentralarchiv. Dies wurde aber nicht hundertprozentig eingehalten.

Das Konsistorium werde die Archive der Kirchengemeinden sammeln und systematisieren, so Tobreluts. Deshalb freue man sich immer, wenn Gäste zu Forschungszwecken ins Archiv nach Tallinn kommen. Die estländischen historischen Kirchenbücher seien bereits fast alle digitalisiert (http://www.ra.ee/dgs/explorer.php).

Michael Anger

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