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An der Grenze zweier Welten - Internationale Kulturtage Mare Balticum 2018

„ Auf der Suche nach dem Baltikum“, so lautete das Thema der Kulturtage Mare Balticum 2018, und über 90 Interessierte aus Deutschland und den Baltischen Staaten waren nach Darmstadt in das Haus der Deutsch-Balten gekommen, um sich die Vorträge anzuhören und am Abendprogramm, dem Baltenball, teilzunehmen. Mit dem Ausdruck „An der Grenze zweier Welten“ beschreibt das Volk der Setukesen sich selbst, denn die Setukesen leben sowohl im Südosten Estlands als auch jenseits der Grenze, in Russland. Ihre Existenz zwischen zwei Welten oder Systemen ist vielleicht sinnbildlich für den als „Baltikum“ bezeichneten Landstrich mit seinen wechselnden Grenzen und der „höchst merkwürdige(n) Vermischung von Nationen und Völkerstämmen“, wie es der Geograf Catteau-Calleville 1815 in seinem Buch über die Ostsee formulierte.

Diese terra inkognita war, was die Ethnien des Baltikums betraf, bereits für die Gelehrten der Frühen Neuzeit eine Herausforderung. Dr. Stefan Donecker, Historiker und Autor der Monographie „Origines Livonorum“, demonstrierte im ersten Vortrag anschaulich, wie im 16. und 17. Jahrhundert die Frage nach der Herkunft der „Undeutschen“, d. h. der Esten und Letten, mit Hilfe von vielfältigen, z. T. phantastischen Genealogien beantwortet wurde. Mit der umgekehrten Perspektive, dem indigenen Blick auf die Völker des Bal-tikums beschäftigte sich der ethnographische Dokumentarfilm „Die Winde der Milchstraße“ („Linnutee tuuled“) aus dem Jahr 1977. Lennart Meri, Regisseur des Films und späterer Präsident Estlands, gelang hier eine poetische wie emanzipatorische Expedition in das Reich der finno-ugrischen Sprach- und Kulturfamilie, zur der neben den Esten, Finnen und Ungarn auch die Nganasanen, Mordwinen, Mansen, Veps, Votians, Samis und andere gehören. Brigitte von Engelhardt stellte diesen Filmessay und seine Geschichte vor. Über Frau von Engelhardt (brigit-te.v.engelhardt@arcor.de) ist auch eine DVD-Kassette mit diesem und weiteren Lennart Meri-Filmen zu beziehen; deren Kauf kommt der Lennart Meri-Stiftung zugute. Unter der Überschrift „Sobald man die curische Grenze übertritt …“ lasen dann Cornelia Lyra, Ricardo Bergmann und Friederike von Gropper Texte von Baltikumreisenden vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Das Baltikum, eigentlich nur ein „Durchreiseland“ auf dem Weg nach Russland, wandelte sich vor allem seit Beginn des 20. Jahrhundert immer mehr zu einem Projektionsraum, sei es für deutschvölkische Ideen, sowjetische Freiheitsprogramme, Heimatreisende oder Ver-gnügungssüchtige. Ein zweiter Teil der Tagung widmete sich den Identitätsmerkmalen des Balti-kums. Prototyp des Baltischen ist das „baltische Herrenhaus“, über dessen Ge-schichte und Stilvielfalt Dr. Ilse von zur Mühlen, Kuratorin der Herrenhaus-Ausstellung in Lüneburg 2012/13, referierte. „Könnte man das Wort »baltisch« komparieren, man müsste den Superlativ auf das Herrenhaus anwenden“, so hatte Heinz Pirang über die „Blütezeit“ der Gutshöfe geschrieben. Der eindeutige Einfluss italienischer, deutscher, russischer oder auch englischer Architektur auf die Gestaltung des Herrenhauses verblasste auf diese Weise oder verschwand sogar ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein, so dass das baltische Herrenhaus nun außerhalb des Baltikums wiederum zum Vorbild wurde, wie Frau Dr. von zur Mühlen anhand eines Guts bei Flensburg zeigte. Über Einflüsse auf das Baltikum, wo man sie nicht vermutete, sprach Dr. Klaus J. Becker, Archivar in Ludwigshafen, am Beispiel der kurzlebigen lettischen Revolutionszeitung „Die Rote Fahne“ von 1919. Dr. Becker hatte den kompletten Jahrgang aus dem Besitz eines „lettischen Zirkels“ in Paris antiquarisch erworben und war bei der Durchsicht auf ein spezielles deutsch-baltisches Verhältnis gestoßen. Schon seit dem 19. Jahrhundert gab es einen Austausch zwischen der lettischen Arbeiterschaft und dem revolutionären Teil der deutschen Sozialdemokratie. Nach der Einnahme Rigas durch die Bolschewiki im Januar 1919 wurde diese Anbindung auch in der „Roten Fahne“ offenbar: Sie übernahm die politischen Artikel aus der deutschen „Roten Fahne“ – doch nur solange wie in Berlin Hoffnung auf einen revolutionären Umsturz bestand. Als die Revolution in Deutschland scheiterte, orientierte sich die „Rote Fahne“ an Sowjetrussland. Das Fortbestehen des Baltischen außerhalb des Baltikums war Thema des Vortrags von Dr. Martin Pabst, dem wissenschaftlichen Leiter des deutsch-baltischen Jugendwerks. Dr. Pabst, der sich schon länger mit dem „Deutschbaltischen Neubeginn“ nach dem Zweiten Weltkrieg sowie den lettischen und estnischen Displaced Persons beschäftigt hatte, zeichnete die Stationen der Reorganisation nach über den Weg der Hilfskomitees und Baltenverbände. Ein weiteres Identitätsmerkmal des Baltikums ist die „Singende Revolution“ der Jahre 1988-1991. Silke Berndsen, die 2012 eine Analyse der Lieder dieser „Revolution“ verfasst hatte, hatte Film- und Tonaufnahmen aus der Zeit mitgebracht und schilderte exemplarisch die Bedeutung und Nachhaltigkeit dieser „Hymnen“ bis in die Gegenwart. Als Vertreter des „heutigen“ Baltikums sprachen abschließend Kaspars Adijans und Björn Piibur von der lettischen bzw. estnischen Botschaft in Berlin. Herr Adijans berichtete über die mediale Wahrnehmung der Baltischen Staaten in Deutschland, Herr Piibur gab einen Überblick über die Geschichte der „baltischen Zusammenarbeit“ bis zur Gegenwart. * * * Im Zentrum des Abendprogramms stand neben dem Ball die Ehrung von acht Gründungsmitgliedern der Partnervereine aus Lettland und Estland. Vorgeschlagen hatte dies Gertje Anton, die Leiterin des Referats Lettland bei der Deutsch-Baltischen Gesellschaft. Dr. Christian von Boetticher, der Bundesvorsitzende der Deutsch-Baltischen Gesellschaft, sprach den Geehrten seinen großen Dank aus für die „Pflege der deutschbaltischen Kultur in ihren Heimatländern“ und ihr Engagement beim „Aufbau vielfältiger freundschaftlicher Beziehungen“. Gemeinsam wolle man zum europäischen Einigungsprojekt beitragen. Ein weiteres Beispiel für die deutsch-baltische Verbundenheit war die sonntägliche Andacht, gehalten von Erzbischof emeritus Elmārs Ernsts Rozītis. Das Thema seiner Predigt war die Offenbarung des Johannes 21, 6: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst“.

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